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ZeitenWende oder: Oh, Olaf, si tacuisses

von Rainer Werning

In seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 konstatierte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz: „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.“

Wow – solch‘ hehre Töne hätte mensch auch gern vernommen, als sich US-amerikanische Truppen im Gleichschritt mit Vasallenverbänden anschickten, mit modernstem waffentechnischem Gerät über Länder wie Afghanistan, Irak, Libyen – um nur Beispiele aus der jüngsten Geschichte zu nennen – herzufallen. „Kollateralschäden“ allerorten: Ungeheure materielle Verwüstungen, gigantisches menschliches Leid, tiefe Traumata und Trümmerlandschaften sind Akte, die, weil sie im Namen von „freedom & democracy“ exekutiert wurden, heute allenfalls müdes Stirnrunzeln hervorrufen.

Stattdessen gilt seit reichlich einem Jahr geballter Medienhype der Ukraine. Im Kern deshalb, weil es diesmal eine russische Schurkerei war, was zur Aggression des Putin-Regimes gegen seinen westlichen Nachbarn führte. Was der ukrainischen Zivilbevölkerung an Hilfen zugutekommt, ist richtig, notwendig und löblich. Wäre freilich nur ein Zwanzigstel dieser Hilfen für die Opfer von US-NATO-Invasionen geflossen und ihnen nur ein Zehntel an medialer Aufmerksamkeit zuteilgeworden, käme mensch der Geruch überbordender Heuchelei nicht in den Sinn.

Ein hervorstechendes Merkmal der „Zeitenwende“ (nicht die Zeit, allenfalls Politik samt Politiker:innen in ihr wenden sich) besteht seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ja gerade darin, sämtliche vorangegangenen (gleichermaßen völkerrechtswidrigen) Kriege und Interventionen der „westlichen Wertegemeinschaft“ unter Einspannung geballter militärischer Macht und als aufgeladenen politisch-ideologischen Affront gegen die gegnerische Seite „vergessen zu machen“ oder schönzureden. Nicht einmal ansatzweise flackerte im Falle der zahlreichen US-inspirierten und -geführten Aggressionen gegen andere Länder in der jüngeren Geschichte auch nur die Überlegung auf, als gebotene Gegenreaktion eine „Cancel Culture“ zu propagieren und/oder die vielfältigen Kontakte auf wissenschaftlicher, künstlerischer und sportlicher Ebene mit US-amerikanischen Kolleg:innen über Nacht zu kappen – von harschen Sanktionen ganz zu schweigen!

Rainer Werning,

geboren 1949 in Münster/Westfalen, Politik- und Sozialwissenschaftler sowie Publizist mit den Schwerpunkten Südostasien & Ostasien.

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