Früh geht euch ein Licht auf
Vorwort der Übersetzerin Grozdana Bulov:
Die kroatische Autorin Vedrana Rudan erzählt in diesem Text, den ich ins Deutsche übersetzt habe, von der Zeit des Umbruchs unmittelbar vor den jugoslawischen Sezessionskriegen. Damals war sie Redakteurin bei Radio Rijeka und hatte es mit einigen wenigen Kollegen gewagt, die allgemeine Kriegsfurore und das Verhalten der aufsteigenden politischen Eliten zu kritisieren.
Der Text stimmt mich aus zwei Gründen nachdenklich. Zum einen ist es die Tatsache, dass sie und die wenigen kritischen Stimmen im Land nicht gehört, sondern ausgeschlossen und angegriffen wurden. Dabei waren sie die Stimmen der Vernunft: gegen Krieg, gegen nationalistischen Hass und Hetze, gegen Verbrecher, die sich die Situation zunutze machten. Zurecht stellt sie heute die Frage an die breiten Massen: Wieso wart ihr blind, wieso ist euch damals kein Licht aufgegangen?
Der zweite Grund, aus dem ich diesen Text übersetzt habe, ist die sehr treffliche Beschreibung von Zuständen in einem Land, das durch Krieg und Zerstörung geht. Die sollte sich jeder von uns zu Gemüte führen. Vedrana Rudan nimmt sich kein Blatt vor dem Mund, sie schreibt es in aller Deutlichkeit: Die einfachen Leute leiden, damit so mancher reich werden kann. Das entspricht auch meiner Erfahrung. Ich kenne Krieg als ein Übel, bei dem der gesellschaftliche Abschaum an Machpositionen gespült wird, der Wahnsinn über die Vernunft siegt und unschuldige Menschen leiden und sterben, während Kriminelle sich bereichern, Villen aufkaufen und ihre Kinder an Eliteunis ins Ausland schicken. Fast mit denselben Worten hat der Schweizer Arzt Reiß die Situation in Serbien nach dem Ersten Weltkrieg in seinem kurzen Büchlein beschrieben. Die Geschichte wiederholt sich, weil wir sie wiederholen.
Den nachfolgenden Text von Vedrana Rudan verstehe ich nicht als Anklage an die kroatische Gesellschaft. Meine Freunde aus unterschiedlichen Nachfolgestaaten Jugoslawiens haben den Text im Original gelesen und auf ihr jeweiliges Land (Bosnien, Kroatien, Serbien) bezogen. Vedrana Rudans Text ist ein universelles Mahnwort. Der Erste Weltkrieg ist Geschichte, die Jugoslawienkriege sind schon dreißig Jahre her, aber es ist ständig Krieg in der Welt, es ist Krieg in Europa. Uns als Gesellschaft muss ein Licht aufgehen, was wir da eigentlich tun, wenn wir zerstörerische Waffen produzieren und Kriege finanzieren. Wenn nicht Vedrana Rudan, so wird uns vielleicht in ein paar Jahren eine junge Forscherin die Frage stellen: Was habt ihr euch dabei gedacht?
Vedrana Rudan: Früh geht euch ein Licht auf
(Titel des Originals: Rano ste se sjetili)
Dieser Text wurde am 28.8.2018 auf Vedrana Rudans Blog (http://www.rudan.info/rano-ste-se-sjetili/) veröffentlicht. Mit Genehmigung der Autorin aus dem Kroatischen von Grozdana Bulov übersetzt.
Ich wiederhole mich. Und es ist mir egal. Damals, im fernen Jahr 1990, hatten manche von uns eine sichere Stelle im öffentlichen Dienst, ich war beim Radio, und wir hätten in gemütlicher Schweigsamkeit die Pension abwarten können. Wir hätten nur die Klappe halten müssen, aber genau das haben wir nicht getan. Ich war Redakteurin beim Radio Rijeka, die Sendung hieß „Gespräch am Fenster an der Küste“. Als die gesamte Belegschaft Ende 1990 entlassen wurde, organisierten wir ein öffentliches Begräbnis und trugen die aus politischen Motiven eingestellte Sendung zu Grabe. Das war, wie gesagt, Ende 1990, kurz vor Beginn des Krieges.
Unser Trauerzug bewegte sich langsam die Fußgängerzone entlang, doch dann wurde er immer schneller und schneller. Die über den Anbruch der neuen Ära, die Tötung Jugoslawiens und die Andeutung von Demokratie begeisterten Bürger unserer Stadt bewarfen uns mit Steinen und Eiern. Wenn wir nicht losgerannt wären und im Rathaus Schutz gesucht hätten, hätten sie uns wahrscheinlich zu Tode gesteinigt. Stundenlang harrten wir hinter den dicken Rathaustüren aus und warteten, dass sich der demokratische Volkszorn legte. Erst im Schutze der tiefen Dunkelheit schleppten wir uns nach Hause, angewidert von der Tatsache, dass unter uns solche Idioten lebten, die nichts kapierten, und die das teuer zu stehen kommen würde.
Die Journalisten, die sich hinter uns stellten, konnte man an den Fingern einer Hand abzählen. Worüber hatten wir denn gesprochen, um den allgemeinen Zorn auf uns zu laden? Darüber, dass Tudjman Titos General war und Kroatien nicht die Demokratie bringen konnte, dass der steigende Hass zu einem Krieg führen konnte, in dem die einfachen Menschen sterben würden, dass das öffentliche Kroatische Radio religiöser als Radio Vatikan war, dass die kroatischen Bürger serbischer Nationalität unfairerweise zu Feinden erklärt wurden, während Tudjmans Enkel, selbst Serben, über Nacht zu reichen Geschäftsleuten mutierten …
Es erfüllt mich mit Stolz, dass ich zu dem kleinen Kreis der Journalisten gehöre, die damals ihre Meinung klar und deutlich gesagt und geschrieben haben. Kroatien ging den Bach hinunter. Und wo war das Volk? Wo waren die Arbeiter? Sie waren der Überzeugung, dass sie für die Anführer, die davor schon ihre hässlichen Fratzen gezeigt und sich als Gauner ausgewiesen hatten, in den Krieg ziehen und ihr Leben opfern sollen. Man musste schon dumm wie ein Bolzen sein, um nicht zu begreifen, dass die Söhne einfacher Leute in den Tod geschickt wurden, damit die Brut der „Elite“ Mercedes fahren konnte.
Die Verbrecher rissen sich alles unter die Nägel, das Fernsehen, das Radio, sie einigten sich auf Krieg. Während das „Kleinvieh“, wie Tudjman das Gemeinvolk liebevoll bezeichnete, an der Front verrottete, rissen die überschäumenden Machthaber das arme Land in Stücke. Dann unterzeichnete Kroatien ein beschämendes Abkommen mit dem Vatikan, das jedem gottverdammten Priester ein Einkommen und alle Annehmlichkeiten zusicherte, auch wenn dieser lieber Kinder schändete, als zu Gott zu beten.
Zahlreiche öffentliche Betriebe wurden in den Ruin getrieben, weil es galt, unseren Importeuren, sprich Kriminellen, zu großem Reichtum binnen kurzer Zeit zu verhelfen und dabei den Schein der Gesetzmäßigkeit zu wahren. Die Landwirtschaft, die Fischzucht, das Gesundheitssystem, das Bildungswesen wurden mutwillig zerstört. Alles, was vernichtet werden konnte, wurde auch vernichtet.
Das Volk schwieg. Als die kroatischen Mandarinenproduzenten keinen Absatz fanden, weil die importierten Früchte billiger waren, als die Landwirte ihre Milchkühe zur Schlachtung geben mussten, weil die deutsche Milch billiger war, als es unmöglich wurde, zu einem Arzt zu kommen, auch wenn man todkrank war, als die neunzehnjährigen Söhne der neuen Leader mit ihren frisierten Autos auf den Straßen wüteten und dabei Kinder überfuhren und ungeschoren davonkamen, als Textilarbeiterinnen von heute auf morgen entlassen wurden. Das Volk schwieg.
Ich erinnere mich noch, es war vor nicht allzu langer Zeit, da waren eine Freundin und ich nach Pula gefahren, um die entlassenen Arbeiterinnen der Arena von Pula zu unterstützen. Wir weinten an einem Platz irgendwo in Pula, wir waren an die fünfzig, wenn überhaupt. Wo waren da die Arbeiter der anderen umstrukturierten Betriebe, etwa der Werften „Uljanik“ und „3. Mai“? Wo war ihre Solidarität? Unser Volk, ich weiß gar nicht, was das sein soll, ich sehe „unser Volk“ als eine Masse von Schwachköpfen, es glaubt schon seit dreißig Jahren, dass Scheiße immer nur die anderen betrifft und noch größere Scheiße auch nur die anderen betreffen wird, während man selbst verschont wird, wenn man sich zum Parlament am Markusplatz in Zagreb begibt und dort Dreck ablädt, wie neulich in einer Aktion geschehen.
Heilige Scheiße! Ich traute meinen Augen nicht, als ich das sah. Auf einem großen Fetzen stand „Ein Haufen Scheiße für ein Stück Scheiße“ oder so etwas Ähnliches, um die ganze Aktion völlig ad absurdum zu führen, wurde sie von einem „Stück Scheiße“ aus dem Parlament „unterstützt“. Da weiß man echt nicht, ob man lachen oder weinen soll.
Sehr zu meinem Leidwesen behielt ich recht. Meine wenigen Kollegen und ich waren damals, 1990, hellseherisch. Kroatien ist ein Ort, an dem nur Kriminelle ein bequemes Leben führen. Sie können jeden, der ihnen unter die Autoräder oder den Yachtpropeller kommt, ungestraft töten, sie können einen Raubzug gegen Millionen Menschen machen und sich auf das Gesetz berufen, es herrscht ein Ärztemangel, desolate Schuldächer stürzen über den Köpfen hungriger Schulkinder zusammen, die Kriegsveteranen haben das Sagen darüber, wer wo auftreten darf, die Priester dürfen im Namen Gottes Kinderärsche auseinanderdehnen, und was macht das Volk? Das Volk schüttet Dreck vor dem Parlament aus und geht dann nach Hause voller Hoffnung, dass die Scheiße die Mafia das Fürchten lehren wird. Glücklich ist die Mafia, die ein solches Volk hat.
Jetzt werden Sie mich natürlich fragen, ob ich ein Rezept habe? Das hatte ich, vor dem Krieg. Die Verbrecher an den Pranger stellen und vertreiben, als sie noch klein waren. Damals wart ihr blind. Heute könnt ihr scheißen gehen. Solange sie euch lassen.