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Meine Kontakte gehen niemanden etwas an

von Jesper Larsson Träff

Es wird immer mühsamer festzuhalten, dass wir uns seit weit mehr als einem Jahr in einem nie dagewesenen, selbstverschuldeten Ausnahmezustand befinden, der nie sachlich und objektiv begründet war, dessen Verhältnismäßigkeit nie überprüft und verhandelt wurde, der die Grundpfeiler eines demokratisch ausgerichteten Systems (auch wenn dies nicht ganz so aufgestellt war, wie wir gerne glauben möchten) auf den Kopf stellt, und ernsthaft droht, permanent zu werden.

Seit Ende Mai werden uns überall milde aber wohl überlegte und dosierte „Öffnungen“ und „Lockerungen“ geschenkt, die aber gar keine sind, sondern die schlimmsten und die vielleicht genau erwünschten Auswüchse des Unzustandes verstetigen und institutionalisieren, und gesetzlich zu legalisieren suchen. Oder sollen. Die Betonung auf das Ungeheuerliche bleibt daher lebenswichtig, genauso wie das sorgfältige Beobachten, das Aussprechen, das Aufzeichnen, und das Nicht-Vergessen. An ein paar merkwürdig wenig kommentierte Facetten darf hiermit erinnert werden.

Das Aufspüren und Nachverfolgen unser aller Kontakte, das „contact tracing“ mit elektronischen Mitteln und freundlicher Unterstützung der Internet-Giganten und Gerätehersteller hielt mit den viel beredeten „Apps“, die in diesem Land merkwürdigerweise vom Roten Kreuz angeblich entwickelt wurden, schon früh Einzug, und ebneten, auch wenn noch so erfolglos (weil technisch dilettantisch), den Weg für die scheinbare Akzeptanz dafür, dass die Situation berechtigt, unsere Kontakte und Bewegungsmuster aufzuzeichnen. Für den guten, ja für welchen Zweck eigentlich? Elektronisch, und ohne unser Wissen, wobei es natürlich völlig unerheblich ist, ob diese Muster dezentral, „anonymisiert“ und datenschutzkonform erhoben und gespeichert werden; sie bleiben für die hierfür autorisierten Instanzen nachvollziehbar. Aber auch ein manuelleres, konventionelleres, nicht primär elektronisch gestütztes „contact tracing“ wurde eingeführt und wird mit Inbrunst weiterhin betrieben, in Wien mit aktuell mehr als 700 Mitarbeitern verschiedenster Art (siehe https://www.wien.gv.at/presse/hintergrund/contact-tracing). Mit welchen konkreten (Er)Folgen und zu welchem Preis, dürften die Fangfragen lauten. Institutionen, Firmen, allerlei private Organisationen und Personen fühlten und fühlen sich veranlasst, sowohl die elektronische wie auch die manuelle (Kontakt-)Verfolgung in Eigenregie mitzumachen. Besonders bizarr ist das freiwillige „contact tracing“ in Eigenregie durch die Registrierung mit vollen Kontaktdaten beim Besuch im Restaurant, Kaffeehaus, Kino, Sportklub, Hotel, eigentlich überall, im Vorfeld noch gestützt durch den alleine gültigen registrierten Test (siehe zB. https://www.wko.at/service/faq-coronavirus-infos.html). Welche sind die psychologischen und gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen eines solchen Verhaltens?

Das angebliche Ziel des „contact-tracens“ ist das Aufspüren all derer von uns, die einem positiv getesteten Menschen im ersten oder zweiten Glied begegnet sind, mit der mittelbaren Konsequenz einer noch höheren Zahl von Menschen, die eine Weile und höchstwahrscheinlich ohne Symptome und ohne von oder mit irgendetwas ansteckend zu sein, in Absonderung verbringen müssen. In Österreich gab es Anfang August 2021 angeblich seit März letzten Jahres mehr als 650.000 „genesene“ Menschen (verursacht durch das maß- und wahllose „Testen, Testen, Testen“), und also wegen des „contact tracens“ eine um einen Faktor (2 oder 3?) noch höhere Anzahl von Personen, die eine 10-tägige und äußerst strikte Quarantäne absolvieren mussten, die allermeisten wahrscheinlich völlig ohne medizinischen Anlass oder Begründung. Von diesen fast 10% der Bevölkerung, vor allem der großen, völlig symptomfreien und mit aller Wahrscheinlichkeit nie ansteckend gewesenen Mehrheit, die also unberechtigt in Quarantäne festgehalten worden ist, ist erstaunlich wenig zu hören; es ist zu hoffen, dass viele Klagen wegen unberechtigter Freiheitsberaubung und entsprechendem Gehaltsverlust anstehend sind. Die genauen Zahlen der so Internierten sind bedauerlicherweise nicht bekannt, obwohl von großem, öffentlichem Interesse.

Ist das so betriebene „contact tracing“ wirklich effektiver als das einfache sich darauf verlassen, dass die meisten von uns im Falle einer Erkrankung Freunde, Bekannte, Kollegen informieren würden – so wie wir es immer getan haben? Es bleibt nur die Besinnung: Verfolgen und Registrieren von unserem Tun und Lassen, von unseren Kontakten zu anderen Menschen, egal ob diese uns bekannt sind oder nicht, haben in einer freien Gesellschaft keinen Platz, sondern gehören ausschließlich in den Überwachungsstaat, und verletzen unsere elementarste Rechte, nämlich das freie, unbeobachtete, nicht-kontrollierte Entfalten unseres Selbst und unserer Beziehungen. Diese fehlgeleiteten Unsitten dürfen sich nie festsetzen, und gehören uneingeschränkt abgelehnt und bekämpft.

Jesper Larsson Träff,

geboren 1961 in Kopenhagen, ist Professor für Informatik (paralleles Rechnen) in Wien. Die hier geäusserte Meinungen und Analysen sind persönliche Ansichten und stehen in keinem Zusammenhang mit der TU Wien.

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