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Land der Werte

von Germinal Civikov

Löwenzahn, so grün ist die Ukraine.

Meine blonde Mutter kam nicht heim.

Paul Celan

5. September 1965. Bei Klaus Reichert, Lektor Frankfurter Suhrkamp Verlag, klingelt das Telefon. Es ist Paul Celan. Der Dichter kommt aus Paris, um manche Probleme mit seinem S. Fischer Verlag zu besprechen. Zugleich überraschte ihn der Suhrkamp Verlag mit dem Angebot, zu ihm umzuziehen. Über die Modalitäten eines eventuellen Umzugs will Celan sich mit dem ihm flüchtig bekannten Lektor unterhalten. Und schon steht er vor seiner Privatwohnung.

Was ihm Sorgen mache, sagt Celan, sei die zunehmende Politisierung, ja, Ideologisierung im Programm von Suhrkamp. Dem entgegnet der Lektor, dass einer wie Celan, der mit den Schriften Kropotkins und Landauers aufgewachsen sei, sich im Verlag von Brecht, Benjamin und Adorno nur zuhause fühlen könne. Bei zwei Flaschen Whisky zieht sich das Gespräch bis spät nach Mitternacht hin, als Celan schließlich erklärt: „Gut, ich werde zu Suhrkamp gehen, unter der Bedingung, daß Sie mein Lektor werden.“

In köstlichen Details erzählt Klaus Reichert dies alles in seinem Buch „Paul Celan. Erinnerungen und Briefe“ (Suhrkamp 2020). Dann bringt Reichert seinen Gast zurück zum Hotel. Spät nach Mitternacht torkeln Dichter und Lektor durch das menschenleere Frankfurt, und der Dichter grölt unterwegs deutsche, russische und jiddische Revolutionslieder, ja, auch die Internationale und die Warschowjanka. „So wanken und schwanken wir, manchmal Arm in Arm, fröhlich dahin“, erinnert sich der um 20 Jahre jüngere Klaus Reichert. Und plötzlich – es sind bald Bundestagswahlen – stehen sie vor einer riesigen blaugelben Plakatwand der FPD. Reichert: „Celan zuckt zusammen, erstarrt, zu Tode erschrocken, und ruft entsetzt: 'Um Gottes Willen, das sind die Farben der ukrainischen Faschisten.' Wir gehen schweigend die letzten Hundert Meter nebeneinander zum Hotel und verabschieden uns stumm.“

Soweit Klaus Reichert. Als ich – nicht so lange her – sein Buch las, blätterte ich immer wieder zu dieser Stelle zurück, und zwar nicht, weil ich an den ewig gelben Pullover des ewigen Bundesministers und FDP-Bundesvorsitzenden Hans-Dietrich Genscher denken musste. Die gelbblaue Fahne, die 1965 den Dichter vor Schreck ernüchtern ließ, hat freilich nichts mit der Parteifahne der deutschen FDP zu tun. Celan sah nach zwei Flaschen Whisky die gelbblaue Flagge des ukrainischen Faschistenführers Stepan Bandera, zuckte zusammen und erstarrte. Warum wohl? Nach dem Krieg wurde Stepan Bandera in der Sowjetunion in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Man fand, er sei für den Mord an Tausenden Polen, Juden und Russen in der Ukraine mitverantwortlich. Zehn Jahre später, am 15. Oktober 1959, guckte in München der sonst gut überwachte Stefan Popel, alias Stepan Bandera, vor seiner Wohnungstür in den Lauf der Pistole eines KGB-Agenten. Eingehüllt in der blaugelben Fahne wurde dann sein Leichnam zum Münchner Waldfriedhof getragen.

Man möge Nachsicht haben mit den Ängsten eines deutschsprachigen Juden aus Czernowitz vor einer Flagge, die 1941 in seiner Bukowiner Heimat geflattert hat und heute mehrere stattliche Gebäude in den EU-Metropolen schmückt. 1970, in seinem 50. Lebensjahr und fünf Jahre nach dem Frankfurter Erlebnis, erlöste sich Paul Celan aller Ängste durch den Sprung vom Pont Mirabeau in die Seine. Schade. Hätte er doch sonst 1990 noch mitansehen können, wie das blaugelbe Banner, das ihm in Frankfurt den Schreck einjagte, auf dem Dach der Werchowna Rada in Kiew als die Nationalfahne der souveränen und demokratischen Ukraine gehisst, wie sodann Stepan Bandera mit dem höchsten Prädikat „Held der Ukraine“ geehrt und wie er mit Hunderten von Denkmälern verewigt wurde.

Auch hätte Celan seine Heimatstadt Czernowitz besuchen können, die heute Cernivcy heißt, er hätte sich auf einer Bank in der Stepan-Bandera-Straße am Theaterplatz ausruhen und dann für die Briefmarkensammlung seines Sohns Eric in Paris die neue Briefmarke mit dem Konterfei des ukrainischen Faschistenführers und Nazikollaborateurs kaufen können. Der ukrainische Staat hatte sie rechtzeitig zum 100. Geburtstag seines Helden in Umlauf gebracht.

Denn die Ukraine, nicht wahr, verteidigt an vorderster Front unsere europäischen Werte.

Germinal Civikov,

geboren 1945 in Ruse/Bulgarien, Studium der Germanistik und Literaturwissenschaft in Sofia und Leiden, lebt seit 1975 in Den Haag. Von ihm ist u.a. erschienen: „Srebrenica. Der Kronzeuge“ sowie „Der Milošević-Prozess. Bericht eines Beobachters“ (Promedia Verlag).

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