Die Kränkung
Ob ich eine Erklärung hätte. Im fahlen Licht tauchte die blonde blutjunge Politesse wie im Traum aus dem Nichts auf und hielt sich anderthalb Meter von mir an ihrem Fahrrad fest. „Bitte?“ Ich sah mich schnell um: nein, auf dem einsamen Gehsteig könnte sonst niemand gemeint sein. Ob ich eine Erklärung hätte und mich ausweisen würde. Ob sie eine Dienstnummer hätte, fragte ich höfflich zurück. Bitte, danke. Ja, ein Führerschein reiche vollkommen. Sie hob ihr Fahrrad auf den Ständer, studierte aufmerksam meinen Führerschein, ließ ihn telefonisch checken und lichtete ihn schließlich ab. „Sonst noch etwas?“ Ja, ergänzt sie, ob ich denn eine Erklärung dafür hätte, mich nach 21 Uhr auf der Straße aufzuhalten. Also gab ich eine Erklärung: „Nach dem Abendessen, wissen Sie, spaziere ich gerne in der frischen Luft, es ist gut für die Gesundheit.“ Aber nein. Die Politesse wollte wissen, ob ich eine Erklärung von meinem Arbeitgeber hätte. „Wie bitte?“ Ob ich eine Erklärung von meinem Arbeitgeber vorweisen könne, die glaubhaft macht, dass ich mich aus triftigem Grund nach 21 Uhr draußen aufhalte, sonst müsse sie mir ein Bußgeld von 95 Euro auflegen, präzisierte die Politesse und reichte mir den Führerschein zurück.
Willkommen in der niederländischen polizeilichen Sperrstunde. Freilich werde ich das Bußgeld nicht bezahlen. Erst soll mir ein Richter bestätigen, dass eine Notstandsanordnung auf meinen verbürgten Grundrechten trampeln kann, und dann sehen wir weiter.
Um der Corona-Pandemie Einhalt zu gebieten verordnete die Regierung der Niederlande ein nächtliches Ausgehverbot – eine seit der deutschen Besatzung 1940–1945 unerhörte Maßnahme. Zwar war die Regierung am 15. Januar zurückgetreten, weil sie durch zu Unrecht zurückgeforderte Kinderbeihilfen Tausende Familien in den Ruin trieb und der Skandal hohe Wellen schlug. Von ethnischen Profilen und Rassismus bei der Wahl der getroffenen Familien war die Rede. Das frisch durch das Parlament gepeitschte Corona-Notstandgesetz machte es dem demissionierten Kabinett doch noch möglich, am 23. Januar eine Nachtsperre anzuordnen. Wir tun das, denn man kann uns doch nicht mehr nach Hause schicken – grinste bei der Ankündigung der krassen Maßnahme der demissionierte Regierungschef Mark Rutte das Parlament an. Nach drei Nächten heftiger Randale schickten sich die meisten Niederländer in die neue Notverordnung. Zwischen 21 Uhr und 4:30 Uhr in der Früh wütet nämlich das Corona-Virus besonders munter und aggressiv, und schließlich geht es ja um unsre Gesundheit. Denn nach Mundschutzpflicht, obsessivem Händewaschen, Händeschütteln-Verbot, Anderthalb-Meter-Gebot, mehreren Lockdowns und testen! testen! testen! soll nun eine Nachtsperre die Zeit zu überbrücken helfen, bis uns irgendwann ein Vakzin erlöst haben wird.
Dem Vizepremier und Minister für Volksgesundheit Hugo de Jonge kann man wirklich nicht vorwerfen, diese Erlösung zögerlich vorangetrieben zu haben. Wir waren im Krieg. Tagnächtlich lief im Fernsehen die Sendung „Frontberichte“, Krankenschwestern im Raumfahreranzug schoben Krankenbetten mit Verwundeten vor sich her und die neue Zahl der Gefallenen lief halluzinierend über den Bildschirm. Da hat der Minister am 26. Mai 2020 einen „Corona-Botschafter“ ernannt, einen Sonderbeauftragten für die Waffen, die man im Krieg gegen das Virus einsetzen werde. Der Ambassadeur war kein Geringerer als Feike Sijbesma, langjähriger Boss des Chemiekonzerns DSM und Pharma-Lobbyist mit besten Beziehungen zu Roche und anderen Pharmagiganten. Sijbesma werde beratend der Regierung zur Seite stehen, für die schnelle Lieferungen von Corona-Tests und andere Munition Sorge tragen und bei der Anschaffung eines Vakzins behilflich sein. Als besonders förderlich für den Erfolg dieser freilich ehrenamtlichen Mission dürfte man noch erwogen haben, dass der leibliche Bruder des Corona-Botschafters ein gewisser Hans Sijbesma ist, Deutschlandchef des legendären AstraZeneca-Konzerns. Als sich das herumgesprochen hatte, empörten sich manche Komplottdenker, dies laufe dem Prinzip zuwider, man habe bei so einer verantwortlichen Mission auch den Schein eines Interessenkonflikts zu vermeiden. Dabei vergessen sie, dass Feike Sijbesma das Geschäft mit seinem Bruder ehrenamtlich, will sagen ganz uneigennützig in die Wege leitete. Und siehe da, am 13. Juni 2020 hat die Niederlande zusammen mit Deutschland, Frankreich und Italien einen Kontrakt mit AstraZeneca unterschrieben. Was man dem Konzern bezahlt habe sei nicht bekannt, hieß es, die Lieferung von 300 bis 400 Millionen Vakzine sei aber vereinbart und werde zügig erfolgen. Nach sieben Monaten Corona-Mandat zog sich dann Feike Sijbesma zurück, um sich, wie er in einer Talkshow kundtat, ganz seiner neuen Berufung zu widmen, nämlich der anstehenden globalen Klima-Pandemie. Nachdem er für seine ehrenamtlichen Verdienste als Ehrendoktor der Universität von Groningen gewürdigt wurde, trat er neulich das Amt des Co-Vorsitzenden des Global Center on Adaptation an. Ehrenamtlich.
Eine herbe Enttäuschung bescherte letztendlich AstraZeneca Millionen von verängstigten Niederländern. Der Konzern war nicht imstande, rechtzeitig zu liefern, und damit rückte für sie trotz Lockdown und Nachtsperre der ersehnte Tag der Erlösung in noch weitere Ferne. Acht von zehn Niederländern, hieß es, schmachten nach der Impfung, wonach alles wieder normal werden würde. Es wird freilich nicht allein an den fehlenden Impffläschchen von AstraZeneca liegen, zugeben muss man aber trotzdem, dass das Impfgeschehen im Königreich nur sehr schleppend vorankommt, und zwar so schleppend, dass in den Medien ein Vergleich die Runde machte, der an Kränkung kaum zu überbieten ist. Dieser Vergleich lautet: Schlechter als die Niederlande impft nur noch Bulgarien! Und tatsächlich: In der europäischen Rangliste des Impffortgangs steht Bulgarien erwartungsgemäß an letzter Stelle. Wie bei allen maßgebenden Leistungswerten bleibt sich auch hier das stolze Balkanland treu: Ende Januar 2021 hatten sich erbärmliche 0,41% der Bulgarinnen und Bulgaren impfen lassen. Und auf Bulgariens Fersen folgt an zweitletzter Stelle das EU-Musterkind Niederlande mit lumpigen 1,01% Geimpften! Als ein in die Niederlande verpflanzter Covidiot und Verschwörungstheoretiker bulgarischer Provenienz ist es mir freilich recht angenehm, endlich einmal für einen hoffentlich langen Augenblick diese zwei heißgeliebten Länder beieinander zu sehen. Dass für meine niederländischen Landsleute dieses Beieinander eben als Kränkung erfahren wird, ist freilich eine andere Sache, die mich naturgemäß wenig berührt.
Interessant bleibt allerdings, was in puncto Impfgeschehen diese zwei so unterschiedlichen Länder aneinandergerückt hat. Von offizieller Stelle werden für diese Schlappe hier wie dort Organisationsversagen und die sich dahinschleppenden Lieferungen verantwortlich gemacht. Die einzig lesbare bulgarische Tageszeitung „Sega“ findet aber eine andere Erklärung. Unter dem Titel „Das Problem ist klar – die Bulgaren wollen sich nicht impfen lassen“ führt der bekannte Journalist Dijan Božidarov aufgrund eigener Recherchen an, dass ca. 80% der Bevölkerung eine Impfung gegen Corona ablehnen. Das sei der wahre Grund für die Impfflaute. Mit der Debatte über den angeblich unzureichenden Impfstoff wolle man, so Božidarov, in Bulgarien diese Tatsache unter den Teppich kehren und Europa hinters Licht führen. Während also acht von zehn Niederländern sich eine schnelle Impfung herbeisehnen, wollen acht von zehn Bulgaren sich nicht impfen lassen. Im Endeffekt aber ist der Impferfolg in beiden Ländern ähnlich schlecht.
Mit diesem Rätsel werde ich wohl noch eine Weile leben müssen, allerdings auch meinerseits mit einer Kränkung. Besonders, wenn ich den im Fernsehen wieder omnipräsenten Vieharzt und Virologen Ab Osterhaus sehe. Als WHO-Berater und Mitbegründer der Biotechnologie-Firma ViroClinics Rotterdam, die Impfstoffe gegen die Schweinegrippe herstellte, beriet er 2009 auch die Regierung, die daraufhin fieberhaft 34 Millionen Impfdosen kaufte, um die Niederländer gleich zweimal impfen zu können. Denn die Schweinegrippe, auch Mexikanische Grippe genannt, werde uns wie eine Spanische Grippe 2.0 heimsuchen, hieß es damals. Als sich die Prognose von Osterhaus nicht bestätigte, ließ die Regierung die Vakzine entsorgen. Der Steuerzahler beglich die Rechnung von 340 Millionen Euro und nach einigem parlamentarischen Gerangel wurde es um den Millionär Ab Osterhaus lange Jahre still. Und siehe da, kaum hatte Corona die Weltbühne betreten, ist auch Ab Osterhaus, seit 2014 Direktor des Research Center for Emerging Infections and Zoonoses an der Tierärztlichen Hochschule Hannover, wieder da, um uns Abend für Abend, die Presse ausgenommen, mit Rat und Tat im Endsieg gegen das Virus beizustehen. Anteile bei ViroClinics habe er keine mehr, hören wir ihn zwischendurch vergewissern. Regierungsberater sei er zurzeit auch keiner.
Bekanntlich führt aber eben Bulgarien und kein anderes Land die EU-Rangliste für Vetternwirtschaft an. Das hat uns mitten im Coronakrieg der Osteuropa-Experte Paul Lendvai mit einem einschlägigen Artikel im Wiener „Standard“ bestätigt. „Es ist nicht wahr“, flüstern mir die Gebrüder Sijbesma gemein ins Ohr. „Stimmt gar nicht mehr!“ Mit dieser Kränkung werde ich noch eine Weile leben müssen.