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Dass es so weiter geht, ist die eigentliche Katastrophe*

von Birge Krondorfer

Es läuft ein Diskurs über die „alte“ Normalität, die einer „neuen“ Normalität weichen wird. Was sollte das sein, der viel beschworene Bruch – und wieso finden auch kritische Geister die alte „Normalität“ plötzlich attraktiv? Da springt doch sofort die unanerkannte, die unterbezahlte Arbeit der neuerdings „systemrelevanten“ Dienste in Pflege und Konsum sowie die verkannte und unbezahlte Infrastruktur des täglichen Funktionierens, also die hauptsächlich „weibliche“ Reproduktions- und Sorgearbeit ins (nicht nur feministische) Auge. Die pausenlose Verfügbarkeit der Dienstleisterinnen und die Reduktion des Sozialen auf die Kleinfamilie kommen ja nicht zufällig jetzt als Rettungsanker daher. 

Zudem: Ist der gesellschaftliche Zustand, der „keinen anderen Wert mehr hat als das eigene Überleben“ (Agamben) eben nicht der neue Zustand, sondern Spiegel eines Systems, das seit Jahrzehnten neoliberaler Verwerfungen die Kluft zwischen Reichen und Armen, Fitten und Kranken immer größer werden lässt? 

Zudem: Wie soll es sein, dass aus der jahrzehntelangen Devise der Selbstoptimierung plötzlich eine altruistische Gesellschaft entstanden sein kann? Ist ja auch nicht, aktuelle Abstandsbitten im öffentlichen Raum werden penetrant ignoriert; für Umwelt/Klimaschutz ist niemand bereit zur Selbstbeschränkung. 

Zudem: Unternehmen und öffentliche Institutionen greifen ungeniert – und das nach dem ganzen Datenschutztheater – in die persönliche Sphäre ein. Diskussionslos wird private Infrastruktur vorausgesetzt, und wenn diese nicht leistbar ist, dann werden die Leute, vornehmlich Kinder, abgehängt. Erzwungen freiwillig werden Wohnzimmer und Küchen geöffnet, Gefühlslagen, Konsumtriebe, Wissensbestände als Daten ohne Ende preisgegeben.

Mit der damit wachsenden Unmöglichkeit, sich gegen die Viralität des Internets zu immunisieren, wird eine für die Demokratie maßgebliche Differenzierung zwischen „freier“ Öffentlichkeit und „geschützter“ Privatheit einmal mehr der Erosion übereignet.

Zudem: Die Verhaftung vulnerabler Menschen (die Kaste der Unberührbaren) in Anstalten, oder auch jene in die eigene „Heimeligkeit“ (mit deren eingebautem Gewaltverhältnis) korrespondiert mit den intransparenten diskursfreien Dekretierungen der Regierung, die immer unglaubwürdiger wirken. All das ist unterlegt mit dem Paradigma der Machbarkeit (wider Natur und Sterblichkeit), das als Fortschrittspostulat suggestiv aufrechterhalten bleibt. 

Zweifelsohne geht es nicht nur um den pandemischen Krankheitsvirus, sondern um die systemischen patriarchalen und kapitalistisch-technologischen Viren.
* frei nach Walter Benjamin

Birge Krondorfer,

Jahrgang 1956. Studium der Philosophie. Lehrbeauftragte u.a. an der Universität Wien. Von ihr erschien im Verlag Promedia (zusammen mit Hilde Grammel) „Frauen-Fragen. 100 Jahre Bewegung, Reflexion, Vision“.

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