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Die neue Normalität

von Beatrix Teichmann-Wirth

Einige ausgewählte (zwischen-)menschliche Aspekte – ungeordnet und ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Der Verlust von (vermeintlicher) Verlässlichkeit: Dass Menschen, mit welchen wir teilweise über Jahrzehnte eine vertraute Beziehung führen, unsere Ansichten in Bezug auf Corona und die Maßnahmen teilen. Der Umgang mit diesen „Offenbarungen“ ist eine beständige Herausforderung, oftmals gelingt es nicht, über die Gräben des gegenseitigen Unverständnisses die Beziehung aufrecht zu erhalten. Näher besehen zeigt sich bisweilen, dass die Beziehung auf Gewohnheit basiert und sich sozusagen ohnedies überlebt hat.
  • Demgegenüber finden Begegnungen mit Menschen über alle ideologischen Lager hinweg statt, wo über Wesentliches, Tiefsinniges gesprochen wird, obwohl wir einander eigentlich gar nicht kennen.
  • Worte wie Verschwörungstheoretiker, Covidioten, Coronaleugner, Coronagegner finden Eingang in die Sprache und werden zur Diskreditierung Andersdenkender teilweise jenseits der ursprünglichen Wortbedeutung verwendet.
  • Wenn man/frau zu einem der oben genannten Menschen zählt, wurde es zur Gewohnheit, um einen Shitstorm zu vermeiden, Corona-kritische Statements nicht öffentlich zu posten, sondern über „Messenger“ ganz gezielt zu teilen, dort wo man annehmen kann, dass sie positive Resonanz finden.
  • Desinfektionsmittel statt Händeschütteln in der psychotherapeutischen Praxis.
  • Bei Neubegegnungen, zum Beispiel zum Zweck eines Erstgesprächs in der Praxis einer Psychotherapeutin, empfiehlt es sich, im Vorfeld ein Bild zu betrachten. Man/frau wird ihr Gesicht nicht zu sehen bekommen – so sich die Betreffende – wie sehr häufig – an die Verordnungen der Berufsverbände hält.
  • Misstrauen wird zur Lebensbasis, Angst allgegenwärtig, wobei wir nicht mehr so genau wissen, wovor wir eigentlich Angst haben.
  • „Zeit heilt alle Vernunft“: Je länger die Regierungen mit Lockerungen zuwarten, die maßgebenden Zahlen und Vorgaben nicht transparent machen, Lockdowns immer weiter und weiter verlängern, desto mehr sind die Menschen bereit, die gerade noch empört zurückgewiesenen Anordnungen dann doch in Kauf zu nehmen (siehe Freitesten versus Reintesten). Im Gegenteil – ein immer größerer Teil der Bevölkerung „bettelt“ um die Impfung, damit „es“ endlich vorbei ist.
  • Hubschrauber, Tausende von Polizisten in Bussen, spezielle Einsatztruppen, Hundestaffeln werden wie bei einem Terroranschlag eingesetzt, um Menschen daran zu hindern, von ihrem demokratischen Demonstrationsrecht Gebrauch zu machen und sie einzuschüchtern. Der „Mob“ schreit bereits nach einem härteren Durchgreifen.
  • Das an die Jugendzeit erinnernde prickelnde Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, wenn man sich mit mehr als mit einem kleinen Haushalt trifft, besonders, wenn es später als 20 Uhr wird.
  • Kinder/Jugendliche sitzen stundenlang vor ihrem Computer, bewegen sich nicht mehr, werden kurzsichtig und freuen sich mittlerweile sogar auf einen richtigen Schulbesuch. 
  • Alte Menschen, die ein langes Leben gelebt haben, werden zu ihrem eigenen Schutze weggesperrt und sind ihrer Mündigkeit beraubt.
  • Kein gemütliches Sitzen mehr in Kaffeehäusern, Restaurants, schnell einen Kaffee im Plastik/oder Pappbecher, eine Pizzaschnitte im Karton und weit entfernt im Gehen verspeisen – seeehr ungesund und umweltbelastend!
  • Wir erleben, was passiert, wenn man sich nicht an die Verordnungen (z.B. Maskenpflicht) hält. Menschen, die aus welchen Gründen auch immer keine Maske (er-)tragen können, werden als Maskenverweigerer bezeichnet, in den öffentlichen Verkehrsmitteln angeschrien, stigmatisiert und bestraft.
  • Wir erleben, wie bereits vorsichtige Hinweise auf Studien, die die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Maßnahmen infrage stellen, von YouTube gelöscht werden. 
  • Sukzessive lernen Menschen, dass nicht nur ein Zuwiderhandeln, sondern auch ein Zuwiderdenken, das Äußern einer anderen (durchaus auch wissenschaftlich belegten) Meinung existenzbedrohende Konsequenzen haben kann und dass es also besser ist, still zu sein. Uniprofessoren verlieren ihre Reputation, Ärzte ihr Recht auf Berufsausübung, Schuldirektoren ihre Position. Sie werden bei Äußerung einer kritischen Meinung diffamiert, diskreditiert und wie im Mittelalter aus der Gemeinschaft gebannt.

Wie gesagt, dies sind nur einige Aspekte dieser neuen Realität. Sicher finden sich (leider!) noch viele andere traurige, grausame Aspekte dieser neuen Normalität.

Was für mich am schmerzlichsten ist: Mit wenigen Ausnahmen steht und schreit niemand auf, wenn es wieder einmal zu einer groben Verletzung der Grund- und Freiheitsrechte kommt. Vom Bundespräsidenten abwärts, der ganz und gar nicht mehr seine „schöne Verfassung“ verteidigt, bis zu großen Teilen der Opposition herrscht, wo ein wahrer Aufstand angesagt wäre, lautes Schweigen oder ebenso schlimm, ein Gutheißen der Maßnahmen.

Das alles wird sukzessive selbstverständlich. Das gerade noch Undenkbare, Unerhörte wird normal, es zieht in unsere Köpfe, Körper und Seelen ein und ehe wir es uns versehen, haben wir uns selbstverständlich eingefunden in diese neue Normalität. Das ist meine große Sorge: Dass bald niemand den Menschen mehr sagen muss, was sie zu tun und zu lassen haben, dass sie niemand bestrafen wird müssen. Dass sie es einfach so machen, weil sie es in diesem Trainingslager des Gehorsams über Monate gelernt haben – dass das so normal ist.

Das und nicht die nächste Virusmutation ist für mich die wahre Gefahr: der Verlust unseres Verbunden-Seins mit uns selbst, das Verstummen bis in die Zellen hinein, der Verlust unseres natürlichen Empfindens von dem, was für uns gültig, wahr und vernünftig ist. Und auch der Verlust des Bedürfnisses, aufzustehen, aufrichtig für das, was wir als wahr erkannt haben, einzutreten, sodass die Türen zur freien Beweglichkeit vielleicht sogar einmal wieder aufgehen, aber die Menschen den Käfig gar nicht mehr verlassen wollen.

Um dem entgegenzuwirken, sollten wir uns bemühen, bei Sinnen zu bleiben, von der Ver-rückt-heit in die Mitte, in die Aufrichtung und damit in die Aufrichtigkeit zu kommen. Das schaffen wir nicht alleine, dazu brauchen wir Menschen, die uns hören wollen, die sich zutiefst für uns interessieren, die uns ermutigen und mit uns sein wollen. Menschen, die eine Zuneigung empfinden, die uns gilt und nicht dem Erfüllen von Ansprüchen. 

Das muss die neue Normalität werden. Dann könnte dieser unheilvolle Zustand zu einem tieferen Heil-Sein beitragen, zu einem Verbunden-Sein in unserer Essenz und nicht in den schon lang überholten Konventionen eines oberflächlichen Kontakts ohne Bedeutung.

Beatrix Teichmann-Wirth,

Jahrgang 1956, ist Psychotherapeutin und Gesundheitspsychologin. Sie lebt und arbeitet in Wien.

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