Doch DDR 2.0
Als vor 15 Monaten der Ausnahmezustand über uns hereinbrach, da dauerte es nicht lange, bis Maßnahmen-KritikerInnen den Begriff „DDR 2.0“ aufbrachten, der zum Ausdruck bringen sollte, dass die Republik wie seinerzeit der „Arbeiter- und Bauernstaat“ eine Diktatur geworden war, in der Menschenrechte nichts zählen und Gängelung alltäglich ist.
Mittlerweile kommt mir der Vergleich nicht mehr völlig absurd vor, und das aus mehreren Gründen.
1. Wer von den Älteren erinnert sich nicht an die Propaganda-Bilder von den Warteschlangen vor den Kaufhäusern des Ostens, mit denen der Westen genüsslich die Unfähigkeit sozialistischen Wirtschaftens beweisen wollte. Nun, heute stehen wir überall an: vor der Bäckerei, vor dem Telekommunikationsladen, ja sogar vor der Apotheke. So wie damals die Menschen im Realsoz verwenden wir mehr und mehr Privatzeit darauf, Dinge, die wir brauchen und die vor dem März 2020 selbstverständlich waren, zu erstehen, zu organisieren, zu erledigen.
2. Die Apologeten der „freien Marktwirtschaft“ kreideten der kommunistischen Planwirtschaft immer an, sie könne das Prinzip „Angebot und Nachfrage“ nicht realisieren. Siehe da: im Jahr 2021 ist es alles andere als selbstverständlich, dass wir Produkte des allgemeinen Bedarfs bekommen. Da gibt es monatelange Wartezeiten für einen simplen Bürosessel, und wer etwas Holz für einen Bücherkasten oder das Stiegenhaus benötigt, der wird darauf hingewiesen, dass Holz in diesem Land derzeit so rar ist wie Bananen seinerzeit in der DDR.
3. Während man uns 2020 einen weitgehend „freien“ Sommer gewährte, so ist 2021 die Allmacht des Regimes schon derart, dass Honecker, Mielke und Co. vor Neid erblassen würden. Man darf nicht einmal auf einen schnellen Kaffee gehen, wenn man sich nicht zuvor den sinnlosen Ritualen der Covidianer unterwirft. Sogar bei einer Inzidenz von unter 10 müssen, so verordnet es das Regime, selbst bei 35 Grad Masken getragen werden. Und wie in der DDR nickt die regimetreue Gewerkschaft die Vorgaben der Staatsführung ab und schert sich einen feuchten Kehricht um die Bedürfnisse der Werktätigen.
4. Wer sich in der DDR systemkonform verhielt, der durfte reisen. Wer ganz brav war, der kam sogar in den Westen. Wer nicht aufmuckte immerhin noch an die polnische Ostsee oder ans Schwarze Meer. Am Einfachsten ging das mit einem Mitgliedsbuch: Kulturbund, Freier Gewerkschaftsbund, Freundschaftsgesellschaft. Heute braucht es den Impf- oder besser noch den „grünen Pass“, dann ist man dabei. Wer sich dem System entzieht, der muss halt mangels einer Datscha Urlaub auf Balkonien machen.
5. Aber in einem unterscheidet sich die gegenwärtige Gesundheitsdiktatur schon fundamental von der seinerzeitigen DDR. Im SED-Staat mochte es keine politische Freiheit gegeben haben, dafür aber für jene, die sich systemkonform verhielten, soziale Sicherheit: Die Mieten in der DDR waren unvorstellbar niedrig, die Lebensmittel preislich vom Staat gestützt und das Recht auf einen Arbeitsplatz garantiert. Unsere Staatschefs haben dazugelernt und das System der sozialen Abgründe des Kapitalismus um die politischen Restriktionen des Realsoz erweitert. Wir haben jetzt das Schlechteste aus zwei Welten, und wir werden aus dieser Situation nur durch einen völligen politischen Neubeginn finden.